Es gibt zahlreiche und weitreichende Gründe, warum die Arbeitnehmermitbestimmung ein wesentlicher Bestandteil eines modernen Systems der Arbeitsbeziehungen und die Grundlage des europäischen Sozialmodells ist. Diese betreffen 1) den Kontext, 2) die positiven Auswirkungen und Vorteile, die mit der Demokratie am Arbeitsplatz verbunden sind, 3) die Tatsache, dass die Arbeitnehmermitbestimmung kein Hindernis für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum darstellt, und 4) dass die kollektive Stimme am Arbeitsplatz ein Gewinn für alle ist.
1 Internationaler Kontext
Seit Beginn des europäischen Integrationsprozesses gibt es ein klares Bekenntnis dazu, den Arbeitnehmern in Europa das Recht einzuräumen, an betrieblichen Entscheidungen beteiligt zu werden. Seit den 1970er Jahren hat dies zur Verabschiedung einer Reihe von europäischen Richtlinien geführt, die die nationalen Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer ergänzen und stärken, nicht zuletzt durch die Anerkennung des Rechts der Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhörung als EU-Grundrechte (AEUV), die Verabschiedung der Richtlinien über den Europäischen Betriebsrat (94/45/EG und die Neufassung 2009/38/EG), die Richtlinie über die Europäische Gesellschaft (SE) (2001/86/EG) und die Rahmenrichtlinie (2002/14/EG) über Unterrichtung und Anhörung sowie andere Rechtsinstrumente (z. B. im Bereich Gesundheit und Sicherheit).
In Anbetracht der Tatsache, dass immer mehr Unternehmen europaweit (oder sogar weltweit) tätig sind und die Umstrukturierung von Unternehmen und Arbeitnehmern immer weiter voranschreitet, gewinnt die transnationale Ebene der Interessenvertretung der Arbeitnehmer immer mehr an Bedeutung. Die Bewältigung dieser Herausforderung setzt voraus, dass sich Unternehmensleitung, Arbeitnehmervertreter und ihre Gewerkschaften in zunehmendem Maße effektiv mit grenzüberschreitenden Fragen der Arbeitnehmerbeteiligung auf verschiedenen Ebenen auseinandersetzen. Unternehmensentscheidungen werden zunehmend zentralisiert und lassen wenig Raum für autonomes Managementhandeln auf lokaler oder nationaler Ebene. Beispiele:
- Die Rechte des Europäischen Betriebsrats, der Europäischen Genossenschaft (SCE) und der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) auf Unterrichtung und Anhörung (I&C) verschaffen den Arbeitnehmervertretern Zugang zu Informationen aus erster Hand bei der zentralen Unternehmensleitung; und
- Die von der zentralen Unternehmensleitung behandelten Themen sind zunehmend länderübergreifend und erfordern eine Abstimmung zwischen den Ebenen der Unternehmensleitung und der Arbeitnehmervertretungen.
2 Positive Auswirkungen und Vorteile der Demokratie am Arbeitsplatz
Auch wenn einige Manager die Beteiligung der Arbeitnehmer immer noch als unnötige Belastung ansehen, wird die Mitwirkung der Arbeitnehmer allgemein als Vorteil sowohl für die Arbeitnehmer als auch für das Management anerkannt:
"Die sich häufenden Belege aus Nordwesteuropa zeigen, dass eine gut funktionierende Arbeitnehmervertretung eine wichtige Rolle bei der Modernisierung und Leistung eines Arbeitsplatzes spielen kann." (EU-Kommission 2006: 77)
Gleichzeitig ist die Beteiligung der Arbeitnehmer mehr als das - sie ist Ausdruck und Verkörperung der Demokratie. Die Demokratie am Arbeitsplatz hat viele Formen und Farben, wie die folgende Infografik zeigt.
In der Tat ist die Beteiligung der Arbeitnehmer:
- ein Grundrecht in Europa, das in der Charta der Grundrechte der EU (Artikel 27) verankert ist;
- ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Sozialmodells. Gleichzeitig stärkt die Arbeitnehmermitbestimmung die europäische Demokratie in der Praxis und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen;
- unterstreicht die Tatsache, dass ein Unternehmen nicht nur von den Interessen seiner Aktionäre und Manager bestimmt werden sollte, sondern auch von den Interessengruppen (als Grundsatz der Unternehmensführung);
- bedeutet, dass soziale Interessen auf der Ebene der Entscheidungsfindung eines Unternehmens wirksam gemacht werden können;
- muss daher durch eine europäische Gesetzgebung unterstrichen werden, um die Interessen der Arbeitnehmer in gleichem Maße wirksam werden zu lassen wie die der Aktionäre; und
- Die europäische Gesetzgebung, die die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer auf transnationaler Ebene basiert auf einem breiten politischen Konsens des Europäischen Parlaments und der europäischen Regierungen.
Die jüngsten Forschungsarbeiten des EGB zu diesem Thema zeigen zahlreiche positive Zusammenhänge zwischen Demokratie am Arbeitsplatz und u. a. einer stärkeren demokratischen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger im Allgemeinen, einem besseren Gesundheits- und Sicherheitsschutz für Arbeitnehmer, mehr Gleichheit, mehr Nachhaltigkeit und einer höheren Produktivität (siehe auch EGB und EGB (2019) Benchmarking Working Europe, Kapitel 4 und diese grafische Online-Präsentation (in Prezi). Darüber hinaus hat das ETUI mit der Entwicklung des Europäischen Partizipationsindex (EPI) seit 2010 einen innovativen Analysestrom zu den Auswirkungen und Wechselwirkungen von Demokratie am Arbeitsplatz und Arbeitnehmerbeteiligung entwickelt.
Abgesehen von den messbaren Auswirkungen und Wechselwirkungen der Demokratie am Arbeitsplatz mit anderen Aspekten der Wirtschaft, der Demokratie im Allgemeinen und der Unternehmensleistung hat sie auch eine tiefgreifende moralische und philosophische Grundlage, die von prominenten Denkern, Politikern, Akademikern und Aktivisten überzeugend dargelegt wird.
3 Die Beteiligung der Arbeitnehmer ist kein Hindernis für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum
Die übergreifende Wirtschaftsstrategie der EU, wie sie in der Initiative Europa 2020 (Europäische Kommission 2010) dargelegt ist, besteht in der Erreichung eines "intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums". Behindert oder unterstützt die Arbeitnehmerbeteiligung die EU bei der Verwirklichung ihres Ziels, "intelligenter, grüner und integrativer" zu werden? Eine Analyse der Ergebnisse seit dem Ausbruch der Krise legt nahe, dass eher das Letztere der Fall ist. Die Gruppe der Länder mit starken Mitbestimmungsrechten hat, gemessen an den Schlüsselindikatoren für die Strategie Europa 2020, viel besser abgeschnitten als die Gruppe der Länder mit schwachen Mitbestimmungsrechten.
Diese Analyse stützt sich auf zwei Datenquellen. Die erste ist Eurostat, das Daten zu den Fortschritten der EU bei der Erreichung der in der Strategie Europa 2020 festgelegten Ziele in fünf Bereichen sammelt: Beschäftigung, Forschung und Entwicklung, Klimawandel und Nachhaltigkeit im Energiebereich, Bildung sowie Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Für jeden dieser Bereiche hat die EU statistische Indikatoren festgelegt, die es den Ländern ermöglichen, ihre Fortschritte bei der Erreichung bestimmter Ziele zu messen. Diese Daten sind über eine spezielle Eurostat-Website zugänglich; in einer Reihe von Veröffentlichungen werden diese Daten und die Fortschritte der einzelnen Länder und der EU als Ganzes bei der Erreichung dieser Ziele analysiert (Eurostat 2015). Ein bemerkenswerter Aspekt von Europa 2020 ist, dass es über die üblichen wirtschaftlichen Messgrößen (z. B. das BIP-Wachstum) hinausgeht und eine Vielzahl von sozialen und ökologischen Ergebnissen betrachtet. Die Mitwirkung der Arbeitnehmer wird im Strategiepapier zu Europa 2020 jedoch nicht erwähnt, obwohl zahlreiche Studien belegen, dass sie positive Auswirkungen haben kann.
Um diesen Zusammenhang näher zu beleuchten, haben Forscher des ETUI den Europäischen Partizipationsindex (EPI) entwickelt, der die Stärke der Arbeitnehmerbeteiligung auf europäischer Ebene misst. Wie bereits in der Vergangenheit ausführlich berichtet (ETUI/EGB 2011: 98-99), zeigte der EPI, dass die Gruppe der Länder mit stärkeren Mitbestimmungsrechten bei den Europa-2020-Schlagzeilenindikatoren deutlich besser abschnitt als die Gruppe der Länder mit schwächeren Mitbestimmungsrechten. Dies basierte auf Daten aus den Jahren 2008-09, also dem Ausbruch der Krise.
Eine aktualisierte Analyse auf der Grundlage von Eurostat-Daten aus den Jahren 2009-2014 (d. h. seit Beginn der Krise) zeigt, dass die Stärke der Mitbestimmung der Arbeitnehmer weiterhin in starkem Maße mit positiven Ergebnissen bei den Europa-2020-Kopfzeilenindikatoren für alle fünf Bereiche der Europa-2020-Strategie verbunden ist. Wie in Abbildung 4.12 unten dargestellt, schnitt die Gruppe der Länder mit überdurchschnittlichen EPI-Werten bei allen folgenden Indikatoren besser ab als die Gruppe der Länder mit unterdurchschnittlichen Werten: 1) die Beschäftigungsquote in der Altersgruppe der 20- bis 64-Jährigen, 2) die FuE-Ausgaben in % des BIP, 3) der Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch, 4) der Anteil der Schul- und Ausbildungsabbrecher, 5) der Anteil der 30- bis 34-Jährigen am tertiären Bildungsniveau und 6) der Anteil der von Armut oder Ausgrenzung bedrohten Bevölkerung. Der Zusammenhang mit der Stärke der Arbeitnehmerbeteiligung ist bei den FuE-Ausgaben besonders stark, die in der Gruppe mit "starken Rechten" doppelt so hoch sind wie in der Gruppe mit "schwächeren Rechten" (siehe auch Abbildung 4.12, die die Korrelation zwischen dem EPI und FuE in den einzelnen Ländern zeigt).
Die Ursache für jedes dieser Ergebnisse ist natürlich komplex und kann nicht auf einen einzigen Faktor reduziert werden. Der starke Zusammenhang zwischen den positiven Ergebnissen bei den Europa-2020-Indikatoren und dem EPI lässt jedoch darauf schließen, dass die Arbeitnehmerbeteiligung das Erreichen eines "intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstums" eher fördert als behindert. Daher könnte die Stärkung der Arbeitnehmerbeteiligung in Europa der EU helfen, diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen.
4 Die kollektive Stimme: ein Gewinn für alle
Die Forderung nach höheren Löhnen, sichereren Arbeitsplätzen oder Änderungen der Arbeitsorganisation ist eine Herausforderung. Wer solche Forderungen stellt, läuft Gefahr, einen Konflikt und gegenseitige Schuldzuweisungen zu provozieren. Selbst wenn die Situation des Einzelnen verbessert wird, ist sie nicht unbedingt für alle besser. Warum also sollte der Einzelne dieses Risiko eingehen? Wenn alle Arbeitnehmer auf die gleiche Weise argumentieren, hat der Arbeitgeber keine Möglichkeit zu erkennen, ob etwas schief läuft, und die Organisation (und die Arbeitnehmer) könnten darunter leiden. Für dieses typische Problem des kollektiven Handelns gibt es eine einfache Lösung: die kollektive Stimme. Die Arbeitnehmer wählen Vertreter, die im Namen der Belegschaft Ideen und Beschwerden vorbringen können. Gewerkschaften, Betriebsräte und ähnliche Einrichtungen dienen dazu, eine solche kollektive Stimme zu erheben, was sowohl den Arbeitnehmern als auch den Unternehmen zugute kommt.
Freeman und Medoff (1984) beschrieben diese Rolle von Gewerkschaften und Betriebsräten und sagten voraus, dass die Existenz einer solchen Institution positive Auswirkungen haben würde: (1) mehr Beschäftigte wären bereit, ihre Ideen und Bedenken bezüglich der Vorgänge im Unternehmen zu äußern, (2) die Beschäftigten wären motivierter und (3) die Beschäftigten würden eher im Unternehmen bleiben.
Anhand der Daten der Europäischen Erhebung über die Arbeitsbedingungen 2015 der Europäischen Stiftung für Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound) in Dublin können wir überprüfen, ob dies zutrifft, und die Ergebnisse sehen vielversprechend aus. Wie in Abbildung 5.10 zu sehen ist, geben Beschäftigte mit Zugang zu kollektiven Mitspracherechten mit 35 % höherer Wahrscheinlichkeit an, dass sie an Verbesserungen bei ihrer Arbeit beteiligt sind, und mit 22 % höherer Wahrscheinlichkeit, dass sie Entscheidungen am Arbeitsplatz beeinflussen können. Wenn Arbeitnehmer also die Möglichkeit haben, ihre Ideen und Bedenken kollektiv zu äußern, neigen sie auch dazu, sie als Einzelpersonen zu teilen. Kollektive Stimme und individuelle Stimme gehen Hand in Hand. Arbeitnehmer mit Zugang zu kollektiven Mitspracherechten scheinen auch motivierter zu sein. Mehr als 70 % der Mitarbeiter mit Zugang zu kollektiven Mitspracherechten geben an, dass sie bei der Arbeit meistens oder immer voller Energie sind und sich für ihre Arbeit begeistern. Bei denjenigen, die keinen Zugang zur kollektiven Mitsprache haben, sind es nur 66 % bzw. 60 %.
Ob Arbeitnehmer, die Zugang zu kollektiven Mitspracherechten haben, das Unternehmen seltener verlassen, ist anhand der Europäischen Erhebung über die Arbeitsbedingungen schwieriger zu überprüfen. Die einzigen beiden Fragen, die sich auf die Absicht, das Unternehmen zu verlassen, beziehen, sind die Frage, ob die Arbeitnehmer glauben, dass sie die gleiche oder eine ähnliche Arbeit bis zum Alter von 60 Jahren machen könnten, und eine zweite Frage zur Dauer ihrer Betriebszugehörigkeit. Obwohl dies keine perfekten Indikatoren sind, zeigen die Ergebnisse auch, dass 60 Jahre und eine zweite Frage nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit. Obwohl dies keine perfekten Indikatoren sind, zeigen die Ergebnisse auch, dass Arbeitnehmer, die Zugang zu kollektiven Mitspracherechten haben, eher die Absicht haben, an ihrem derzeitigen (oder einem ähnlichen) Arbeitsplatz zu bleiben: 71 % gegenüber 60 %. Sie haben auch eine deutlich längere Betriebszugehörigkeit als Beschäftigte ohne Zugang zu kollektiver Mitbestimmung (10,3 Jahre gegenüber 6,5 Jahren).
Wie Freeman und Medoff feststellten, können Arbeitnehmer auf Probleme an ihrem Arbeitsplatz unterschiedlich reagieren, wobei eine Reaktion (Mitsprache) der anderen (Kündigung) eindeutig vorzuziehen ist. Ein kollektives Mitspracherecht in Form einer Gewerkschaft oder einer Versammlung, in der Arbeitnehmervertreter (kollektiv) Bedenken äußern können, ist von Vorteil. Es wird damit in Verbindung gebracht, dass mehr Arbeitnehmer individuell Verbesserungsideen äußern, motivierter sind und weniger dazu neigen, den Arbeitsplatz zu verlassen. Selbst wenn man mögliche Auswirkungen der Unternehmensgröße, des Landes, des Berufes und des Sektors kontrolliert, zeigen die dargestellten Zusammenhänge, dass eine kollektive Stimme in Form einer Gewerkschaft, eines Betriebsrats oder einer ähnlichen Einrichtung ein Vorteil für die Arbeitnehmer und damit auch für die Unternehmen ist.